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Das menschliche Gedächtnis, kollektive Erfahrungen und soziale Informationen
Michael Giesecke 10/2018
Wenn Menschen zusammentreffen, können sie gemeinsame Erlebnisse haben und es kann Schnittmengen in ihren Erfahrungen geben. Insoweit kann man von kollektiven Erfahrungen sprechen. Solange es keine technischen Kommunikationsmedien gab, waren solche gemeinsamen Erfahrungen nur unter Anwesenden möglich, maximal also bei Veranstaltungen in Amphitheater oder anderen öffentlichen Plätzen. Die Buchkulturen und die Fernsehgesellschaften vergrößerten den Kreis derer, die einen gleiche Umwelt erfahren und damit ähnliche Informationen gewinnen und speichern konnten. Durch die digitalen Medien diversifizierten und vervielfachten sich die Gruppen mit gleichen Umwelten.
Wie groß die Parallelverarbeitung gleicher Umwelt bei unterschiedlichen Menschen ist, läßt sich kaum je mit Sicherheit sagen. Sie ist vermutlich sehr begrenzt; 10 Zeugen desselben Unfalls geben selten einen gleichen Bericht. Sie haben folglich auch nur geringe gemeinsame Erfahrungen.
Man kann Daten von den Programmen, die sie erzeugen, nicht trennen. Dies gilt offensichtlich für die technische aber ebenso für die menschliche, soziale und kulturelle Informationsverarbeitung. Kollektive Erfahrungen setzen deshalb gleiche Programme voraus. Eben deshalb lernt man in Schulen Programme.
Noch geringer werden die Übereinstimmungen, wenn zwischen der Wahrnehmungssituation und dem Rückgriff auf die gewonnenen Informationen (viel) Zeit verstreicht. Erst hier kommt das Gedächtnis im emphatischen Sinne des Alltags ins Spiel. (Informationstheoretisch wird der Speicher sofort geladen.) Es ermöglicht Erinnerungen - nicht an die Ursprungssituation wohl aber den davon gespeicherten Informationen. Das Gedächtnis der Menschen ist gewaltig und die Erinnerungen werden vielfältig vernetzt und bekommen erst dadurch ihre Bedeutung. Daß zwei Menschen ein gleiches Gedächtnis haben, ist völlig unwahrscheinlich, theoretisch unmöglich und empirisch sowieso nicht nachprüfbar. Kollektive - im Sinne von: gleiche - Gedächtnisse sind nicht vorstellbar. Gemeinsame Erinnerungen an gemeinsame Erfahrungen der gleichen Umwelt von unterschiedlichen Menschen sind hingegen in den angedeuteten Grenzen möglich. Insoweit kann man von gemeinsamen Erfahrungen, von kollektiven Erinnerungen und auch von kollektivem Wissen sprechen. Menschengruppen mit einer gewissen gemeinsamen Geschichte können immer wieder auf diese kollektiven Wissensbestände Bezug nehmen, auch durch nur vage Andeutungen. Sie sind wie ein Zeigfeld, auf das man verweisen kann (Deixis am Phantasma bei K. Bühler) Dank der technischen Medien kann der Kreis der Menschen, die hier einbezogen werden, weit über Gruppen hinausgehen, gesellschaftlichen und nationalen Rang gewinnen.
Im Alltag ist immer wieder die Rede davon, daß Erinnerungen von einer Generation auf die andere weitergegeben, vererbt werden. Das ist höchst mißverständlich. Weitergegeben von einem Menschen zum anderen können nur erinnerte Informationen, gespeicherte Erfahrungen, Wissensbestände, Meinungen, Bewertungen usf.. Die im Gedächtnis gespeicherten Erinnerungen sind zu komplex und so mit anderen Gedächtnisinhalten vernetzt, daß sie sich nur selektiv und nicht als System bzw. Netzwerk weitergeben lassen. Darin gründet ein Gutteil der Subjektivität und Individualität des Menschen.
Aus diesen Darstellungen, in welcher Form auch immer, wählt der Zuhörer, Miterlebende usf aus. Er kann sich auch nicht an die Ursprungssituation der Erfahrungen der älteren Generation erinnern. Er kann sich lediglich an die ausgedrückten Erinnerungen erinnern. Insofern schafft die Rede von generationenübergreifenden (kollektiven) Erinnerungen mehr Mißverständnisse, als daß sie aufklärt.
Die Rede vom 'kollektiven oder gesellschaftlichen Gedächtnis', also im Singular, führt auf ein ganz anderes Feld. Das Subjekt ist nun nicht mehr der einzelnen Mensch, dem man ein Gedächtnis nicht absprechen kann, sondern ein Kollektiv, darunter sogar ein meist großes, eine Gesellschaft. Reden wir vom kollektiven Gedächtnis in diesem Sinne, so haben wir es nicht mehr mit Menschen als den Subjekten von Erfahrungen und Erinnerungen zu tun sondern eben mit einer eigenartigen sozialen Größen. 'Das' Gedächtnis einer sozialen Größe kann nicht die Schnittmenge der Gedächtnisse von unterschiedlichen Menschen sein, weil es einem anderen logischen Typ angehört. Da es keine Informationen, damit auch keine Erinnerung ohne Materie geben kann, jedes Bewußtsein mit dem Fluch der Materie behaftet ist (K. Marx), stellt sich sofort die Frage nach dem materiellen Träger des sozialen Gedächtnisses. Es stellt sich weiter die Frage, ob diese soziale Größe Erfahrungen machen und speichern kann und wie das Verhältnis zwischen den Gedächtnissen der Menschen und dem Gedächtnis des Kollektivs zu denken ist. Dies ist u.a. die Frage nach dem Verhältnis von Psychologie und Soziologie.
Die Lösung des triadischen Denkens, der triadischen Kommunikations- und Sozialwissenschaften ist es, Menschen und soziale Phänomen als unterschiedliche Arten der Klasse von informationsverarbeitenden Systeme aufzufassen. Sie können Erfahrungen gewinnen, speichern , verarbeiten und nutzen. Damit wird zum einen einer Vermenschlichung des Sozialen ein Riegel vorgeschoben. Die Rede vom sozialen Gedächtnis oder auch Bewußt ist ein Anthropomorphismus. Er verwischt die Unterschiede zwischen den beiden Arten zugunsten des Menschen. Durch die Trennung sind wir erst in der Lage, Menschen und soziale Systeme als eigenständige Größen zu behandeln und ihre Interaktion zu beschreiben.
Das Anthropomorphisieren, die Vermenschlichung des Sozialen bedeutet wissenschaftsgeschichtlich eine Rückfall mindestens hinter die Trennung von Psychologie und Soziologie zu Beginn des 19.JHs. Wie auch umgekehrt die Reduktion des Menschen auf einen fait social (Emile Durkheim) zu kurz greift.
Wir stehen dann vor der Aufgabe zu bestimmen, wie die sozialen Informationssysteme ihre Informationen gewinnen ('wahrnehmen') , wo und wie die Verarbeitung stattfindet, und eben auch, wo die gewonnenen Information über Zeit und Raum gespeichert werden, was also das soziale Äquivalent zu dem menschlichen Gedächtnis ist. In diese Diskussion kann vermutlich nur derjenige einsteigen, der gewisse soziologische Grundlagen kennt und akzeptiert. Ansonsten landen wir sofort wieder bei der Vorstellung , daß soziale Kollektive nur als Summe von Menschen zu verstehen sind - was aller Erfahrungen über die Dynamik von Gruppen - und Sozialprozessen widerspricht, und was die eigentümlichen Strukturen aller Institutionen, Bürokratien (M. Weber) und Organisationen negiert. In die sozialen Systeme gehen die Menschen nur hochselektiv als Rollen, Funktionselemente, Marionetten (A. Schütz), ... ein. Ihre Komplexität wird bis zur Unkenntlichkeit reduziert, z.B. indem sie zu Wählern in parlamentarischen Demokratien funktionalisiert werden. Nichts bleibt von ihnen, wenn sie von dem sozialen System genutzt werden, als ihre Stimme - und dann noch allerhand statistische Daten in Ämtern, die vielfältig , aber unabhängig von Willen und Handeln des Einzelnen, genutzt werden können, ebenfalls durch soziale Charakteren. Aber nichtsdestotrotz: der Mensch als Wähler gibt Informationen ab, die von anderen Menschen oder Maschinen wahrgenommen, zu Daten verarbeitet, addiert und ausgegeben werden. Menschen können also als Wahrnehmungsorgane und als Prozessoren und Effektoren des sozialen Systems fungieren. Genauso, wie auch technische Sensoren, Kameras, und Prozessoren, Computer, und Automaten von sozialen Systemen zur Informationsverarbeitung genutzt werden. Sie haben da immer weniger einen Sonderstatus, was bei den Menschen Kränkungen auslöst, die sich immer wieder in Technik- und Medienkritik und dem Wunsch nach vergangene Naturzuständen Bahn bricht.
Politische Implilationen
Die Rede vom 'kulturellen' oder 'kollektiven Gedächtnis' ist heikel. Wir sprechen auch nicht von 'kulturellen Ohren', vom 'kulturellen Darm' oder 'kollektiven Füßen'. Solche Anthropomorphismen können im politischen Diskurs als Gleichnisse eine Erklärungskraft haben, wie wir spätestens seit der Ansprache des Menenius Agrippa (494 v. Chr,) an die aus Rom ausgezogenen Plebejer wissen. (Untätiger Magen versus schaffende Glieder des Körpers.) Als wissenschaftliche Modelle/Begriffe eignen sich solche Metaphern nicht, ein Weg zu Modellen öffnet sich so nicht.. Hinzu kommt, daß ihre Verwendung - gewollt oder nicht - die Menschen gleichschaltet. Viele Mitglieder der Gesellschaft/Kulturen haben die Geschichte anders erlebt und Anderes - nun tatsächlich - im Gedächtnis. Sie 'sollen' nun ihre Erfahrungen vergessen und andere annehmen, damit sie Teil der Kultur bleiben. Es geht nicht um ihr Sein sondern um soziales Sollen. Das nennt man gemeinhin Propaganda. Nun ist Propaganda in Kulturen und sozialen Systemen üblich und unvermeidlich. Die Funktion der Wissenschaft sollte sie eher nicht sein. Sie sind eine Zumutung für die Individuen und es ist ihnen nicht zu verdenken, wenn sie diese als Übergriffe erleben. Die Spannung zwischen dem Einzelnen und dem Kollektiv wird zugunsten des Kollektivs gelöst. Die Gefahren dieses Ansatzes kennen wir, in Deutschland zumal. Auch die Irrtümer über das 'gesellschaftliche Bewußtsein', denen die Politiker in den zusammenbrechenden sozialistischen Staaten aufsaßen mögen als Warnung dienen.
Menschen, soziale Systeme und Kulturen sind Arten mit eigenem Recht und so kommen wir um die Gestaltung ihrer Beziehungen nicht umhin.
Gewiß läßt es sich kaum vermeiden, daß Sozialwissenschaftler und Historiker mit ihren Modellen und Ergebnissen Legitimationen für politische Propaganda liefern. Und es mag durch aus sinnvoll sein. Das Verhältnis soll gar nicht bewertet werden. Das sind Fragen der Anwendung wissenschaftlicher Ergebnisse. Hier geht es aber um die die Produktion der Modelle. Kann der gewählte Ansatz überhaupt zu etwas anderen führen als zu der Zurichtung der Individuen?
Es sollte klar sein, daß der kollektivistische Ansatz im eklatanten Widerspruch zur Praxis der europäischen Buchkultur der Neuzeit steht: Meinungen, Gemeinsamkeiten im Erleben und Handeln, sollten sich frei auf dem Markt herstellen. Sie sind emergente Ergebnisse, nicht geplante Resultate von Machtzentren. Das Ideal ist, daß jeder sich seine Meinung, sein Gedächtnis frei bilden kann, die Bücher sind ihm informative Umwelten wie die Reden und anderen Dinge auch.
Die Konstruktion eines - mehrere sind vermutlich schon gefährlich, dann könnte man es ja gleich bei den Gedächtnissen der Individuen belassen - kollektiven Gedächtnis fügt sich demgegenüber nahtlos in die Bewegung ein, die den Markt der Meinungen und Güter den Regulativen normativer Machtzentren unterwerfen - und letztlich opfern.
Und auf diesem Weg hat die Politik in Deutschland erhebliche Erfolge zu verzeichnen. Sie hat klare Vorgaben durchgesetzt, wie die Menschen den Nationalsozialismus und das Ende des Kriegen zu erleben hat, welches Erleben von Familien und heterosexuellen Paaren normal ist, daß 'Hassen' nun unter Strafe zu stellen ist, daß Menschen, die sich bedroht fühlen, irren usf..
"Ein Krieg beginnt für den einzelnen nicht mit dem Tag, der später in den Geschichtsbüchern steht, und er endet nicht mit einem offiziellem Datum. Die Übergänge finden allmählich statt.
............Ich erinnere mich an einen Sonntagmorgen. Es muß in den ersten Apriltagen gewesen sein. Wir waren auf der Rabeninsel.... Die Sonne schien und die Luft war voll Veilchenduft. Wir hörten die Motoren der Flugzeuge nicht -... Es waren feindliche Kampfgeschwader, die nach Leuna flogen oder nach Leipzig... An diesem Sonntagmorgen fing für uns beide der Friede an. Der Krieg hatte für den, der neben mir war, schon im Polenfeldzug ein Ende. Ein Kriegsversehrter seit 1940." (Christine Brückner: Frühling 1945, In: Lachen, um nicht zu weinen, Ffm./Berlin, 1985, S.33/4)
Soviel zum sogenannten 'kollektiven Gedächtnis', dessen Protagonisten nun nachzuholen versuchen, was die Gleichschaltungspolitik bis 1945 nicht erreichte, die Gleichschaltung des Erlebens und Fühlens.