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Wer vergleicht, wird auch unterscheiden. Aber es gibt viele Formen des Unterscheidens.
Die Prämierung bipolarer Unterscheidungen
Die zweiwertige Logik, die seit der Antike den Lehrplan in Europa bestimmt und sich als Ideal für wissenschaftliche Definitionen in praktisch alle Regionen der Erde ausgebreitet hat, fördert ein Entweder-oder-Entscheiden. Es schafft binäre Oppositionen, zunächst natürlich die Unterscheidung von wahren und falschen Aussagen. Aber dabei bleibt es nicht. Auch die wahren Aussagen über die Welt werden binär schematisiert. Die politische Welt erscheint als Herrschaft oder als dessen Gegenteil, die Knechtschaft; als Freiheit oder als Unterdrückung. Die Erziehung des Menschen geschieht im Spannungsfeld zwischen Sozialisierung durch die Übernahme vorgefundenen Wissens und Glaubens und Individualisierung, die sich gerade in der Abhebung von sozialen Normen ausdrückt. So sieht es zumindest der Diskurs von Philosophen und Pädagogen im Abendland.
Die empirischen Wissenschaften ordnen ihre Befunde bevorzugt auf Parametern, die durch entgegengesetzte Pole nach dem Muster minus:plus bzw. null:unendlich strukturiert werden. Die Untersuchungsobjekte werden durch ihre spezifische Nähe bzw. Entfernung von den Polen charakterisiert. Diese Strategie finden wir schon in der antiken Elementenlehre und ihren zahlreichen Versionen in den Kulturen der Naturvölker. Sie ordnet die Erscheinungen auf Parametern mit den Polen heiß:kalt, feucht:trocken oder Feuer:Wasser, Erde:Himmel usf. (Dazu gleich mehr.)
Mehr Komplexität läßt sich erreichen, indem man solche Parameter verknüpft. Und dies ist in Form von Tabelle (Matrizen) und Koordinatenkreuzen wohl schon immer geschehen. Alle diese Verknüpfungen heben das Grundprinzip binärer Umweltklassifikation nicht auf. Sie nutzen es weiter und bestärken es damit. Dieses Denken durchzieht unsere Welt mit Parametern, mit geraden Linien, deren Pole es zu bestimmen gilt. Sind sie bekannt, so kann die Verortung der Phänomene beginnen. Die Topologie des (euklidischen) Raumes wird durch Linien und einfache Gegensätze bestimmt. Auch das Subjekt selbst bestimmt sich im Verhältnis zu den anderen in dieser Weise: Der Andere ist größer oder kleiner, dicker oder dünner, für mich oder gegen mich usf. Ähnlich stellte man sich auch die visuelle Wahrnehmung vor.
Das zweiwertige Denken bleibt das Ideal im ‚aufgeklärten’ öffentlichen Leben der Industrienationen. Gegenbewegungen begnügen sich zunächst meist mit einer Kritik der Parameter und setzen das Programm fort, indem sie neue Parameter und Oppositionen propagieren. Sie fordern äußerstenfalls auf, die Ambivalenz der Pole zu berücksichtigen. Das gibt dann Anlaß zu allerlei Schwelgen in Paradoxien, z.B.: 'Wo Licht ist, ist auch Schatte!'. Klares binäres Schematisieren. Kritik: Schaut man genau hin, kann man gewahr werden, daß auch in jedem Licht Schatten - von was auch immer (Wolken, Wasserdampf, Luftverschmutzung..) - ist und jeder Schatten noch ein Quentchen Licht verlangt, um von uns als solcher wahrgenommen zu werden. Also gilt: Licht ist immer auch Schatten und Schatten nur Schatten, insofern er auch Licht enthält - oder so ähnlich. Damit werden die Oppositionen dekonstruiert - ohne sie als Prinzip des Denkens in Frage zu stellen. Im Gegenteil, sie werden in einer gewissen Hinsicht verfeinert - und insofern haben die Paradoxien und Dekonstruktionen ihren Verdienst. Nur am Entwickeln alternativer Denkstrategien nehmen sie keinen Anteil. Typischerweise wird selbst der Begriff der ‚Ambivalenz’ so verwendet, als ob es ausschließlich um Doppeldeutigkeit oder eben Zweideutigkeit ginge.