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Beschreiben als bevorzugte epistemische Praxisart

Die Architektur der Objekte der epistemischen Praxis und ihre mehrdimensionale Beschreibung

In der abendländischen Wissenschaftsgeschichte steht bei der Wahrnehmung der Dinge die visuelle Beobachtung und die Verarbeitung visueller Daten eindeutig im Vordergrund. Immer, wenn man Dinge als Körper auffassen kann, geht es darum, ihre Architektur zu erkennen. Sobald man von Körpern spricht, befindet man sich in Räumen. Und zwar befindet sich nicht nur das körperhafte Ding sondern genauso auch der Beobachter in einem Raum. Es gibt ein räumliches Verhältnis zwischen dem - ebenfalls körperhaft vorgestellten - Beobachter/Praktiker und den zu beschreibenden Dingen.
Die Frage drehte sich immer wieder darum, wieviele Ansichten eines Phänomens erforderlich sind, um es befriedigend zu beschreiben. Spätestens seit der Renaissance kommen die Forscher überein, daß Grundriß (Vogelperspektive) und mehrere Aufrisse nötig sind, um Gegenstände so zu modellieren, daß sie intersubjektiv wiedererkannt und reproduziert werden können. Diese Einsicht wird nicht nur auf Gebäude (Architektur) und technische Instrumente sondern auch auf die natürlichen Phänomene angewendet.
Die Skizzenbücher Leonardo da Vincis sind voll von Zeichnungen ein- und desselben Objekts aus verschiedenen Perspektiven. Erst gemeinsam scheinen sie für diesen Renaissancekünstler und Wissenschaftler die Objekt zutreffend abzubilden. Der Betrachter muß sie im Geiste zusammensetzen und sich aus dieser Synthese ein komplettes Bild eines Körpers zu formen.
Bildname

Abb.: Leonardo da Vincis mehrperspektivische Skizzen als Beispiel für mehrdimensionale Beschreibungen und deren Zusammenfügung zu einem 3D-Modell der Wirbel (Cod. Windsor Bl. 139v)
Erst wenn der Gegenstand, aus drei verschiedenen Perspektiven beschrieben und die Ergebnisse zu drei Dimensionen zusammengefügt sind, gilt die Beschreibung und damit die Kenntnis des Objekts als vollständig.
Die perspektivische Wahrnehmungslehre ist ein Praxismodell, jedenfalls kann sie weder auf den Wahrnehmungsakt noch auf Darstellungsakte reduziert werden.
Das Prinzip mehrdimensionaler Beschreibungen hatte schon immer direkte Auswirkungen auf das Verständnis von 'wahren' und richtigen Beschreibungen. Es gilt die Regel:
Betrachte die Dinge als mehrdimensionale Objekte und beschreibe sie aus mehreren Perspektiven!
Diese Regel gilt auch für die Beschreibung sozialer und kultureller Beziehungen, Prozessen und anderen 'faits sociaux'. Auch Kommunikationssysteme lassen sich als - sozialkommunikative - Körper gut modellieren.

Die Logik dreidimensionaler Modellbildung (Modelle-3D) und die morphologische Soziologie Emile Durkheims (1858-1917)
Einer der ersten Gesellschaftstheoretiker, der mehrdimensionale Beschreibungen und Perspektiven nutzte und theoretisch begründete, ist Christian Garve ('Einige Beobachtungen über die Kunst, zu denken in derselbe: Versuche über verschiedene Gegenstände…. Bd. 2 Breslau 1796') Danach wurde es still um diesen Ansatz in der Soziologie.
Zur Modellierung sozialer und kommunikativer Phänomene als dreidimensionale Körper, also als Objekte mit einer Architektur - und nicht bloß mit einer Struktur -, vergleiche M. Giesecke: Untersuchung institutioneller Kommunikation, 1988, S.114 - 131.
"Die Idee, soziale Ereignisse als Körper aufzufassen, ist keineswegs neu. Eine Grundregel der soziologischen Methode von Durkheim lautet, soziale Phänomene ,als Dinge‘ zu betrachten, denen sich der Forscher ,von außen‘ nähert und die er ,betrachten‘ kann. Versucht man Genaueres über seine Modellvorstellung von den sozialen Phänomenen zu erfahren, so fallen zuerst die Analogien zu natürlichen Gegenständen, zu materiellen Körpern auf. Beispielsweise spricht Durkheim (Regeln der soziologischen Methode, 1895/1970) davon, daß soziale Phänomene eine ,körperhafte Gestalt, wahrnehmbare ihnen eigene Formen annehmen und eine Realität sui generis‘ bilden. (S. 109) Oft zieht er Parallelen zur Biologie: ,,Jede soziologische Erscheinung ist wie übrigens jede biologische Erscheinung imstande, je nach den Umständen verschiedene Formen anzunehmen […]. (S. 147) Und schließlich bezeichnet er die soziale Morphologie als einen ,Weg zum eigentlich erklärenden Teil‘ der Soziologie. (S. 176; vgl. a. S. 194) Soweit ich sehe, bleiben aber diese Modellvorstellungen von den sozialen Phänomenen als körperhafte Gestalten mit je eigenen Formen bei Durkheim im Bereich einer eher alltagsweltlichen, vergleichenden Redeweise. Sie werden nicht zu einer präzisen Modellvorstellung entwickelt, die Anleitung für empirische Untersuchungen geben kann." (Giesecke, 1988, S. 56) Evidenz gewinnen sie nur in Bezug auf die visuelle Wahrnehmung. 'Räume' sind dann die notwendige logische Ergänzung der 'Körper'. Mit deren Beschäftigung hat sich die Soziologie Zeit gelassen.

Triadisches Beschreiben

Die Objekte der Erkenntnis sind mannigfaltige Diamanten. Da die Dimensionen und damit die Beschreibungsmöglichkeiten, die Anzahl der Möglichkeiten, etwas als etwas anderes und besser zu Definierendes zu behandeln, theoretisch unendlich sind, reiht man häufig solche Beschreibungsperspektiven nebeneinander und vervollständigt so die Informationen über das Objekt. Diesen Weg eines pluralistischen Sowohl-Als-Auch kann das NTD nur für die begrenzte Zeit der Komplexitätssteigerung mitgehen. Er ist nicht ihr Ziel. N-dimensionale Beschreibungen haben den Nachteil einer großen Beliebigkeit und vor allem bleiben die Beziehungen zwischen den Dimensionen bzw. Parametern und den aus ihnen resultierenden Daten meist unklar.
Für das triadische Denken ist konstitutiv, nicht eine einzelne Dimension und nicht beliebig viele auszuwählen sondern in der Phase des Komplexitätserhalts jeweils drei.
Das NTD legt die Dimensionen bis auf wenige axiomatische Modelle nicht fest. Darauf richten sich auch nicht die Anstrengungen. Auch hier zeigt sich wieder der pragmatische Grundzug des NTD, der nicht einzelne Modelle heiligt sondern ein funktionsangemessenes triadisches Gestalten und Verstehen.
Was immer Objekte von Beschreibungen sein mögen, das NTD fordert dazu auf, sie triadisch zu beschreiben. Dazu gibt es viele Möglichkeiten, die aber alle darauf hinauslaufen sie als das emergente Produkt des Zusammenwirkens dreier Faktoren: Prozesse, Dimensionen, Elemente, Typen u.a. zu modellieren. Sie liefern Abbruchkriterien für die Tiefe der Beschreibung und die Gestaltung der Praxis.
Handelt es sich um materielle Gegenstände, die wir sehen können, ist eine dreidimensionale, perspektivische Darstellung eine der vielen Möglichkeiten.

Die Triangulation der Perspektiven und Dimensionen

Alle dreidimensionalen Objekte erfordern im Handeln, Wahrnehmen und Denken im Prinzip Standpunkt- und Perspektivenwechsel, um die Dimensionen und deren Beziehungen mitzubedenken und mitzubehandeln. Diese Kombination der Perspektiven und Standpunkte kann man, wenn man sich denn am Ende mit dreien begnügt, Triangulation nennen.
3D-Modelle erzwingen von den Subjekten Triangulationen.
Triangulationen können auch in den Naturwissenschaften vorgenommen werden.

"Triangulation means explicitly choosing analytical approaches that depend on different assumptions", schreiben Marcus R. Munafò and George Davey Smith und geben folgendes Beispiel: "Triangulation usually requires input from multiple methodologies or disciplines. An elegant historical example is continental drift. In the early 1900s, geophysicist Alfred Wegener noticed that the shape of the west coast of Africa seems to fit that of the east coast of South America. He sought evidence to support the continental-drift theory from a wide range of sources, such as palaeontology (fossils from the same period appeared on both continents) and geology (glacier markings indicated that the continents were once close)." (Replication is not enough, in: Nature, Vol. 553, 23 January 2018, p. 401)

In den Sozialwissenschaften wird oft zwischen Datentriangulation, Forschertriangulation, Theorietriangulation und Methodentriangulation. unterschieden. Vgl. Norman K. Denzin: 1970, sowie Uwe Flick 2008.
Unter Triangulation versteht das NTD genau diese Nutzung von drei Fragestellungen, Wahrnehmungsperspektiven und Handlungszielen beim Umgang mit einem Objekt. Zwingend ist es dabei, die drei Dimensionen auf das Objekt miteinander zu verknüpfen. Immer sind in der Triangulation die Standpunkte des Subjekts zu wechseln, meist rotiert man zwischen ihnen.

Die triadische Beschreibung von Prozessen

Während es leicht fällt, die Mannigfaltigkeit von Körpern vorzustellen und zu verstehen, daß sie ihre vielen Merkmale erst offenbaren, wenn wir sie aus mehreren Perspektiven wahrnehmen, fehlen uns anschauliche Bilder für die Vielfalt von dynamischen Vorgängen, von Bewegungen im Raum, von Prozessen als mehrdimensionale Objekte. Natürlich gibt es viele Prozesse – so, wie es viele andere Dinge, materielle Gegenstände und Informationen gibt - , aber das ist hier nicht gemeint.

Es geht dem NTD darum, jeden einzelnen Prozeß selbst auch multidimensional, am Ende dreifaltig zu verstehen

Finden sich für die Energien, die dynamische Prozesse auslösen auch etwas, was den Seiten oder Falten von räumlichen Körpern, Subjekten und Objekten, vergleichbar ist? Das NTD schlägt vor, Prozesse grundsätzlich als Resultante von Teilprozessen zu verstehen und diese dann als Faktoren einer Trias zueinander in Beziehung zu setzen. Es fordert also auch im Hinblick auf die die Beschreibung von Prozesse ein Mindestmaß an Mannigfaltigkeit.
Die Faktoren der Triade dynamischer Vorgänge werden Prozesse genannt.
Der paradigmatische Fall, an dem das NTD diese Vorstellung ausführt, ist die Modellierung der Praxis als emergentem Produkt von Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsprozessen. Auch der einfachste Prozeß ist für den Triadiker ein Molekül aus mehreren Faktoren- oder er nimmt kein Interesse an einer Beschreibung des Prozesses.
Wenn das Objekt, der zu erklärenden und zu gestaltende Prozeß, die Resultante von drei Teilprozessen bzw. Faktoren ist, dann gelten auch für seine Beschreibung die üblichen triadischen Regeln: Verstehe den emergenten Prozeß als das Ergebnis der wechselseitigen Beeinflussung von zahlreichen basalen Bewegungen mit unterschiedlichen Eigenschaften (Richtungen, Energie). Bilde Cluster dieser basalen Prozesse und versuche das beobachtete oder zu gestaltende dynamische Phänomen (Objekt) aus dem Zusammenwirken von genau drei Prozeßfaktoren zu verstehen. Bestimme die unterschiedlichen Kräfte (Energie) der Prozesse und damit ihre je spezifischen Anteile am Fließgleichgewicht. Es geht hier um die Klärung der Prämierungen und damit eben auch der spezifische Balance zwischen den Bewegungen.

text, id1050, letzte Änderung: 2023-11-24 18:28:56

© 2025 Prof. Dr. phil. habil. Michael Giesecke